Haarausfall bei Frauen ist immer noch ein absolutes Tabuthema. Volles, gesundes Haar macht in der gesellschaftlichen Wahrnehmung einen großen Teil der weiblichen Attraktivität aus. Umso größer ist natürlich der Leidensdruck, wenn die Haare auf einmal nicht mehr so wollen, wie frau selbst. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Zeit, als mein Haupthaar plötzlich dünner wurde - mit 15 sollte man sich doch eigentlich über sprießende Haare wundern, nicht über ausfallende. Zunächst wollte mir auch niemand glauben, dass mir die Haare ausfallen. Wenn ich jemanden darauf angesprochen habe, kam immer die Reaktion "Ich sehe da nichts!". Das änderte sich aber nach einigen Monaten und meine Haarausfall-Story begann.
Mein Alltag mit Haarteil: Die Angst vor Entdeckung begann
Mit zwanzig startete ich meine Haarersatz-Karriere - und damit wurde auch die Angst vor Entdeckung mein stetiger Begleiter. Gerade zu Beginn hatte ich Schwierigkeiten, das Haarteil natürlich wirken zu lassen. Meine Haare wirkten "perückenhaft" und die Bondings, mit denen das Haarteil an meinen eigenen Haaren befestigt war, blitzten immer wieder hervor. Das war die Zeit, in der ich mein erstes Coming Out hatte. Der Druck, dass andere etwas entdecken könnten hat mich so belastet, dass ich eine Entscheidung traf: Ich würde meinen damals besten Freunden davon erzählen.
Wir waren eine Clique von etwa 5 Mädels und sahen uns täglich in der Uni. Ich nutzte also eines Tages einen Moment, in dem alle beieinander waren und machte kurzen Prozess: Ich habe Haarausfall und trage ein Haarteil! Die Reaktionen waren absolut positiv - sie waren natürlich neugierig und wollten mehr darüber wissen; und von da an war ich wesentlich entspannter in meinem Alltag. Denn nun hatte ich Verbündete, die ich jederzeit fragen konnte, ob es schlecht sitzt oder ob alles normal aussieht. Das hat mir unglaublich über die erste Zeit geholfen, als die Unsicherheit (und Paranoia) mich überall hin begleitete.
Und wieder das große Schweigen ...
Je erfahrener ich im Umgang mit meiner Haarintegration wurde, desto weniger hatte ich das Bedürfnis, anderen von meinem Haarausfall zu erzählen. Ich wollte einfach "normal" sein, Dates haben, attraktiv gefunden werden. Abgesehen von meinen fünf Freundinnen, denen ich anfangs davon erzählt hatte, wusste also lange Zeit niemand von meinem Haarersatz. Mein größtes Bestreben war, das Ganze geheim zu halten. Dementsprechend war ich immer verunsichert, wenn die Augen meiner Gesprächspartner an den Haaransatz wanderten und dort "kleben blieben". Wie eine Schlage wollte ich mich aus solchen Situationen winden, aus Angst, auf das Haarteil angesprochen zu werden.
Besonders schlimm war das natürlich beim Dating. Wer möchte schon beim ersten Treffen mit der Tür ins Haus fallen und sagen: Übrigens, das sind gar nicht meine Haare!!. Eben, so gut wie niemand. Daher habe ich versucht, diesen Moment der Wahrheit möglichst lange hinauszuzögern. Aber seien wir mal ehrlich: Es gibt ein paar zwischenmenschliche Begegnungen, in denen wird es immer schwieriger, so ein Haarteil geheim zu halten. Nicht was ihr denkt! Morgens im Bad zum Beispiel, beim Haarewaschen und fönen. So kamen immer wieder Fragen auf, warum ich so lange brauche und warum ich dafür die Tür abschließe. Jedenfalls habe ich in der Kennenlernphase irgendwann immer den Mut gefunden, darüber zu sprechen. Die Reaktionen waren auch bei den Männern nie negativ - vor allem aber auch deshalb, weil ich mir keine oberflächlichen Arschlöcher ausgesucht habe. Man kann das Ganze auch positiv sehen: Wenn ihr zu eurem Haarausfall stehen könnt, dann fungiert er als Filter für unpassende Menschen, die euch nicht so mögen oder lieben, wie ihr seid.
Ich trage ein Haarteil - wie sage ich es den Kollegen?
Spulen wir mal 10 Jahre vor - denn mein zweites richtige Coming Out hatte ich mit 33. Inzwischen war ich nicht mehr an der Uni, sondern stand mit beiden Beinen im Berufsleben. Viel hat sich zunächst nicht geändert - mein Haarausfall war nach wie vor kein Thema, über das ich mit Freunden oder Kollegen sprach. Bis zu einem Tag im Februar 2018. Das Haarsystem, das ich seit nunmehr 12 Jahren trug, trieb mich immer weiter in den Wahnsinn. Erst vor drei Monaten hatte ich für 1.600 Euro ein nagelneues Haarteil gekauft - und es war schon hinüber. Das Haar war unglaublich strohig, verfilzt und konnte nur noch im Zopf getragen werden. Ich war wirklich der Verzweiflung nahe.
Durch einen total Zufall entdeckte ich aber bei Instagram eine Haarausfall-Community, die Perücken und Topper trugen. Bei diesen Frauen sah das so viel natürlich aus als bei mir. Ich fasste kurzerhand den Entschluss, mir zum ersten Mal in meinem Leben einen Topper zu bestellen. Dass ich diese Entscheidung nicht bereue, muss ich glaube ich hier nicht erwähnen, oder? Es war ein blonder Topper mit dunklem Ansatz - ich bin allerdings von Natur aus dunkelblond bis hellbraun. Dieser Unterschied erschien mir doch zu groß, als dass niemand auf der Arbeit etwas mitbekommen würde. Daher entschloss ich mich in diese Augenblick, dass ich es wohl allen erzählen müsse - und das tat ich dann auch am nächsten Tag! Ich kam morgens zur Arbeit und bekam einige Kommentare: "Wow, warst du beim Friseur? Hast du dir die Haare gefärbt? Sieht toll aus!". Im Grunde hätte ich gar nichts sagen müssen außer: Ja, war ich!. Aber ich hatte mich ja schon dafür entschieden, also sagte ich allen: Nein, das sind nicht meine Haare.
Offenheit macht euch frei!
Das Witzige ist, selbst wenn man den Leuten so etwas geradeheraus sagt, glauben es viele dennoch nicht. Mein Chef dachte, ich veräppel ihn und glaubte mir auch einige Wochen danach noch nicht, als ich längst 3 Mal die Woche die Haarfarbe gewechselt hatte. Einige Kollegen haben es bis heute nicht verstanden oder es ist ihnen nicht aufgefallen. Kurz gesagt: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass andere Menschen schlichtweg nicht so viel über meine Haare nachdenken wie ich. Und selbst wenn man so ein Geständnis macht, ist es für die anderen eben nicht so bedeutsam, wie für einen selbst. Für mich hat sich seit diesem Tag jedoch alles geändert. Ich bin so unendlich viel freier in meinem Handeln und habe keine Angst mehr vor Entdeckung. Ich kann endlich alles machen, wovon ich als Teenager geträumt habe: Blonde Haare, Strähnchen, lange Haare, lockige Haare, glatte Haare ... wer weiß, vielleicht kaufe ich mir irgendwann eine pinke Perücke!
Ich habe dieses Coming Out keinen einzigen Tag bereut und habe auch keine negativen Reaktionen darauf erhalten - im Gegenteil. Natürlich will ich nicht behaupten, dass es allen anderen auch so gehen muss. Ich habe sehr nette und offene Kollegen, vor denen ich meine Unzulänglichkeiten nicht verstecken muss. Das mag in anderen Unternehmen anders aussehen. Aber eines ist Fakt - wenn ihr offen damit umgeht, dann beugt ihr Lästereien hinter eurem Rücken vor. Was sollen diese Menschen denn noch groß sagen, wenn ihr offen zu eurem Haarersatz steht? Ich denke die Vorteile dieser Offenheit überwiegen absolut die negativen Aspekte, die dadurch kommen könnten. Ich würde mir daher wünschen, dass Haarteile und Perücken einfach mehr als Accessoire gesehen werden und weniger als schambehaftete Krücke. Also, macht mit und seid offen!
Hinterlassen Sie einen Kommentar